Samstag, 9. Juni 2012
Freitag, 8. Juni 2012
Das Märchen von der Jungfräulichkeit
Ich war gestern Abend im Kino und habe mir den Film Virginity Tales von Mirjam von Arx
angeschaut, hier für alle den Trailer:
falls jemand das erste Lied kennt, es läuft mir seit gestern nach, konnte es aber nirgendwo finden.. ? :-)
Also ab hier SPOILER ALERT - für alle jene, die noch nichts über den Inhalt des Films erfahren wollen - nicht weiterlesen! Für alle anderen:
Virginity
Tales ist ein Dokumentarfilm, der hauptsächlich die Familie Wilson aus Colorado
Springs porträtiert und der erzählt, wie die in den USA sehr bekannten
Wilsons das von ihnen initiierte Purity Ball Movement vorantreiben. Bei den
Purity Balls handelt es sich um Tanzveranstaltungen, an denen Töchter ihren
Vätern ihre Reinheit, sprich sexuelle Enthaltsamkeit, bis zur Ehe versprechen. Die
Mädchen tragen weisse Kleider, die Väter geloben, ihre Töchter – auch physisch
– zu verteidigen und ihnen zu helfen, bis zur Ehe rein, sprich sexuell enthaltsam zu
bleiben; die Väter stecken dann weiter den Mädchen einen Ring an den Finger,
der irgendwann einmal durch einen Ehering ersetzt werden wird und zum Schluss
wird getanzt – Vater mit Tochter, fast schon als wäre es eine Hochzeit nur eben
zwischen Vater und Tochter. Dass dieser Veranstaltung die Idee der Jungfräulichkeit zugrunde liegt, ist etwas für PsychoanalytikerInnen, aber
belassen wir’s dabei. Denn sowohl die Wilsons, als auch das von ihnen
angestossene Movement liessen sich enorm leicht ins Lächerliche ziehen und es
ist dem Film zu Gute zu halten, dass dies nicht geschieht, denn zum
(Aus-)Lachen ist die Sache nicht.
Ich habe gestern beim gedanklich Wiederkauen des Gesehenen zwei sich widersprechende Gedanken bemerkt, die
sich (unkritisch) in meinem Kopf ein Rededuell lieferten:
1. die prüden evangelikalen Amerikaner
finden neue Wege, die ganz und gar nicht subtile Unterdrückung von Mädchen und
Frauen wieder salonfähig zu machen, sie instrumentalisieren das allgemeine
Unwohlsein bezüglich der sexualisierten (Pop-)Kultur um Mädchen das
Selbstbestimmungsrecht über ihren Körper abzusprechen, Sexualität generell zu
verteufeln und Frauen wieder in die Rolle als Heimchen am Herd zurückzudrängen und
das macht mir Angst und macht mich wütend.
2. die gottverdammte (pun intended) 21.
Jahrhundert-Orientierungslosigkeit macht mir aber auch Angst. Wenn es nun also Menschen gibt, die für sich eine Lösung gefunden haben, damit umzugehen, dass die
Welt so komplex ist, wie sie ist - why not? Sie haben Antworten. Irgendwie beneidenswert und völlig
nachvollziehbar. Wer bin ich, dass ich ihnen sagen dürfte, sie machen es falsch?
Heute ist
das alles einmal überschlafen, ich habe mir
eine amerikanische Talkshow (der Vater Randy Wilson ist auch als Gast zugegen, ab Teil 2 - einfach rechts die Fortsetzungen anklicken) angesehen zum Thema:
und dann noch eine Schweizer Radiosendung
(dazu später) angehört und ich verstehe jetzt, dass die beiden Gedanken von
gestern sich eigentlich gar nicht widersprechen, sie sind einfach zwei
Aufnahmen von unterschiedlichen Standpunkten her:
So sagt auch Jessica Valenti
(Mitbegründerin von feministing.org und eine der Stimmen gegen die Purity Balls
in den USA - ich bin übrigens ein erklärter Fan von ihr) in der besagten Talkshow: Es ist völlig okay, wenn einzelne
Menschen sich entschliessen, keinen Sex zu haben (ab 6.49 min ist sie zu sehen, im 4. Teil um 2.20 min sagt sie obiges Zitat).Und dem stimme ich
vollumfänglich zu, das meine ich damit, wenn ich finde, dass jede(r) für sich
einen Weg finden soll, sich in der Welt zurechtzufinden und wenn das über
Enthaltsamkeit geht, warum nicht, das ist es, was ich nachvollziehbar finde.
Denn es ist ihre persönliche Entscheidung ihre Sexualität so zu leben, wie sie
dies wollen – in diesem Falle eben nicht (körperlich). Sei das vor der Ehe oder
generell oder während der Ehe, oder auch ohne überhaupt an die Ehe zu denken,
weil sie das so wollen.
Das Problem
ist aber, dass das Umgekehrte im Weltbild der Wilson-Familie im Spezifischen,
aber auch der radikalen Enthaltsamkeitsbewegung (in den USA) nicht funktioniert,
weil junge Frauen, und wohl etwas weniger aber auch junge Männer, die sich
nicht an diese Purity-Regeln halten, eben nicht rein sind, etwas negatives
sind, falsch leben. In der Talkshow ist die Rede von gefallenen Frauen, und im
Film reagieren die Wilson-Eltern mit Unverständnis auf die Frage, ob sie es
akzeptieren würden, wenn ihre Töchter vorehelichen Sex hätten. Denn eine solche
Situation scheint gänzlich undenkbar zu sein. Die Wilsons sprechen dann,
offensichtlich von der Frage verwirrt zuerst von unconditional love, die sie
ihren Töchtern gegenüber bringen würden, dann sagen sie aber auch, dass, wenn die
Töchter in Gefahr seien, der Vater seine Töchter „physisch beschützen“ würde,
man denkt dabei an sein Schwert, das er immer mal wieder zu rituellen Zwecken
zückt. Die Wilsons fordern also Toleranz gegenüber ihrer Vorstellung davon, wie
man tugendhaft und richtig lebt, sind aber nicht bereit, diese Toleranz anderen
Menschen mit anderen Lebensentwürfen entgegenzubringen.
Ebenso sagt
der Vater Randy im Film, dass auch wenn jemand alle guten Taten leistet, wenn
er oder sie dies nicht im Namen Jesus’ macht, diese Person trotzdem in die
Hölle komme. Was es dann schon sehr schwierig macht, ihn in seinen
Überzeugungen ernst zu nehmen und ihm wohlwollend seine Meinung zuzugestehen
(da er das umgekehrt absolut gar nicht tut, kein klitzekleines bisschen).
Die Wilson-Kinder
sind allesamt homeschooled, das heisst, die Mutter unterrichtet sie –
Kreationismus, keine Einmischung der Regierung ins Persönliche, und da sie von
Algebra nichts versteht, betet sie, dass das Wissen darum von Gott kommt... Also
diese völlige Abschottung von der Aussenwelt, die mangelhafte Ausbildung der
Kinder, die empfinde ich auf individueller Ebene als nicht okay, weil so den
Kindern die Chance aberkannt wird, selber denken zu lernen, die Welt selber
verstehen zu lernen. Es handelt sich bei den Wilsons um ein völlig in sich
geschlossenes System, das totalitär funktioniert, der Anführer ist der Vater.
Und dieser wird nicht müde zu betonen, dass es der Wunsch der Kinder sei, rein
zu bleiben, er unterstütze und begleite nur. Dass die Kinder sich nie selber
entscheiden konnten, wird komplett verleugnet. Und seine Führer-Postition zeigt
sich deutlich, wenn er die vor ihm knienden Kinder nacheinander segnet, wenn er
den Jungen mit einem Schwert zum Krieger schlägt, wenn er den Mädchen eine
Mitgifttruhe trümmert, wenn er den zukünftigen Ehemännern seiner Töchter einen
Brief schreibt, wenn er die Kinder selbst verheiratet, wenn seine Frau ihn
ihren Leader nennt. Die permanente Verleugnung seiner Machtposition ist schwer verdaulich,
vor allem verknüpft mit seiner charismatischen, sanften Art habe ich diesen
Mann fast nicht ertragen, der seine Söhne und Schwiegersöhne in den Krieg
schickt und seinen Töchtern keine Ausbildung zukommen lässt, sodass die älteste
Tochter dann irgendwo auf einer Militärbasis sitzt, alleine zu Hause, wartend
darauf, bis (und ob überhaupt) ihr Mann wieder zurück kommt.
Und da
liegt nun wieder das Problem nicht hauptsächlich bei den Wilsons, sondern in
der Tatsache, dass sie nun als Paradebeispiel für eine enorm mächtige Bewegung
stehen – die erzkonservativen Rechten, die auf schreckliche Weise Religion mit Krieg
verknüpft. Während nämlich die Frauen rein bleiben bis zur Ehe und dann gute
Ehe- und Hausfrauen zu sein haben, werden die Männer zu Kriegern erzogen. Der
kleine Junge der Wilsons hat es als grosses Ziel auf die Militärschule
Westpoint gehen zu können und dem Feind in die Augen blicken zu können, die bereits
verheirateten ältesten Töchter sind beides Army Wives, das heisst, ihre Männer
kämpfen in den Kriegen, die die USA führen. Zudem ist Randy politisch sehr
engagiert, auch wenn er das fadenscheinig bestreitet: „Es geht nicht um
Politik, es geht darum, Entscheidungsträger zu beeinflussen.“ Er ist beim
Family Research Council tätig, einem politischen Think Tank, der gegen
Frauenrechte (gegen Zugang zu medizinisch sicheren Schwangerschaftsabbrüchen,
gegen Zugang zu Verhütungsmitteln, natürlich gegen Sex vor der Ehe), gegen
LGBTQ-Rechte (das Hauptengagement ist gegen die sogenannte Gay Agenda, sie
vermischen stets Pädophilie mit Homosexualität) kämpft, dafür aber die
Todesstrafe befürwortet (so viel zu pro life) und der, ja, ich kann es nicht
anders ausdrücken, einen Glaubenskrieg führt/ führen will, gegen jegliche
Einmischung des Staates ins Private, für jegliche Einmischung Amerikas in
andere Länder, so scheint es.
Hier ein
Video, das im Film ebenfalls vorkommt, wo Randy auch involviert ist- den
Watchmen on the Wall, eine assoziierte Priestervereinigung, die sich politisch
vernetzt:
Und, das
muss ich jetzt so ausdrücken, this pisses me off! Die christliche Botschaft instrumentalisieren,
um Hass und Krieg und Unterdrückung der Frauen zu propagieren und das noch so
verdammt erfolgreich, das finde ich eine äusserst üble und besorgniserregende Sache.
Aber, und
das gilt es festzuhalten, diese Bewegung findet ja nicht im luftleeren Raum
statt, wie ich bereits angetönt habe und es handelt sich dabei auch nicht um
ein Portrait einer US-amerikanischen Freakshow, sondern um eine
gesellschaftliche Entwicklung, die auch in meinem Umfeld (was das genau ist,
ist ein eigenes Buch wert) spürbar ist. Eine Reaktion auf Haltlosigkeit. Und
ich verstehe, wie eine solche Familie und auch wie ein Wissen darum, was gut, was böse
ist, eine enorme Stabilität gewährt. Dass Väter mit ihren Kindern etwas
unternehmen, ist wunderbar, und die Wärme der Wilsons schien nicht nur
gekünstelt. Ich plädiere dafür, dass jeder und jedem das Recht zugestanden
wird, den eigenen Weg zu finden, mit Orientierungslosigkeit, mit der
Übersexualisierung der Gesellschaft, mit spirituellen/religiösen Fragen
umzugehen – ohne Gewalt! Einfach echt ohne Waffen, ohne totalitäre
(Familien-)Regimes, ohne die Möglichkeiten der einzelnen Menschen in den
Systemen einzuschränken (so weit das möglich ist), ohne Mädchen ihr Recht auf
eine Ausbildung und eine eigene Identität, ein eigenes Leben abzusprechen ohne
anderen mit Gewalt etwas aufzuzwingen (Stichwort Andersgläubigen,
Andersliebenden, Anderslebenden!)
Und nach
diesem etwas pathetischen Schluss, aber ich fühle mich im Rahmen dieses Themas
wirklich gezwungen, das zu schreiben, auch wenn es eigentlich klar sein sollte,
noch der Link zur oben erwähnten Radiosendung von DRS1 – die sich mit dem
Mythos Jungfräulichkeit auseinandersetzt:
Nicht nur im Bezug auf die neue
Keuschheitsbewegung, sondern mit Blick auch auf früher, was es z.B. bedeutet
hat, wenn im Frauen im Kloster und nicht in einer Ehe lebten, dass es
medizinisch eben ein so etwas wie Jungfräulichkeit gar nicht gibt und auch fragt, was denn die Jungfräulichkeit überhaupt beenden (?) kann - nur vaginaler heterosexueller Geschlechtsverkehr? Zudem
sprechen drei Menschen zum Thema, wie sie die Frage Jungfräulichkeit für sich
geklärt haben und eine Kulturwissenschaftlerin erläutert den Kontext und
spricht über ihre Untersuchungen zum Thema. Sehr empfehlenswert!!
Dienstag, 5. Juni 2012
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